“Stell dir deine Gedanken wie Wolken vor, die ganz langsam vorbeiziehen”, flüstert die Yogalehrerin fast schon andächtig in den Raum hinein. Aber meine Gedanken sind gerade alles andere, nur keine vorbeiziehenden Wolken. Eher so Hagelsturm, Gewitter und Regenschauer gleichzeitig. Ich ärgere mich über mich selbst – das mit dem Meditieren habe ich schon mal besser hinbekommen. Aber gut, vielleicht bin ich einfach aus der Übung gekommen. Neuer Versuch. Tieeef einatmen, tieeef ausatmen. Für einen Moment klappt es und ich fokussiere mich nur auf die ein- und ausströmende Luft in meiner Lunge. Aber dann ploppen sie wieder auf, die fiesen Gedanken und bohrenden Fragen, die offenbar nicht bis zum Ende der Stunde warten können: “Habe ich eigentlich schon Anna auf ihre letzte Nachricht geantwortet?”, “Ob der Blumenkohl im Kühlschrank zuhause wohl noch gut ist?” Und allem voran sind da diese kleinen, beißenden Vorwürfe an mich selbst: “Ich bin doch zum Yoga gegangen, um abzuschalten. Was, wenn ich hier am Ende nicht tiefenentspannt aus der Stunde herausgehe? Dann hätte ich mir das Ganze auch gleich sparen können”.
Hätte ich? Tja, das ist die Frage. Auf dem Nachhauseweg später komme ich nämlich noch einmal ins Grübeln und frage mich: Wie viel ist Achtsamkeit überhaupt wert, wenn sie nur noch mehr Leistungsdruck in mir erzeugt? Oder liegt es an mir – bin ich einfach zu selbstkritisch und sollte mich dem Ganzen gelassener geben? Ja, das wird es sein. Wahrscheinlich sollte ich an meiner Selbstliebe arbeiten und nicht so streng mit mir sein. Aber dann ist er ja schon wieder da: der Leistungsdruck. Das Gefühl, sogar bei der Selbstfürsorge performen zu müssen – als müsste ich das nicht schon in allen anderen Lebensbereichen. Ganz schön kompliziert. Mein Kopf fühlt sich schwer vom Tag und vom vielen Denken an und am Ende frage ich mich, ob mich ein gemütlicher Abend auf der Couch nicht vielleicht sogar mehr entspannt hätte als diese Yogastunde.
Dass das alles sehr negativ und pessimistisch klingt, ist mir bewusst. Schließlich ist die positive Wirkung von Yoga und Meditation auf den Körper und Geist ja auch mehrfach wissenschaftlich belegt. Aber gleichzeitig bin ich mir nicht sicher, ob der Mindfulness-Hype, wie er seit ein paar Jahren in unserer westlichen Welt existiert, so gerechtfertigt ist. Ob er für unsere mentale Gesundheit in manchen Fällen nicht sogar mehr Schaden als Nutzen sein kann. Abgesehen von dem eingangs beschriebenen Selbstoptimierungs- und Leistungsdruck, birgt die ganze Achtsamkeitspropaganda in den sozialen Medien und in der Werbung noch weitere Probleme.
Atemübungen, Morgenrituale und Journaling werden uns häufig als Allheilmittel für unsere Probleme angepriesen. Dass sie das nicht sind, liegt eigentlich auf der Hand: Meine Aufgaben im Job werden nicht weniger, wenn ich jeden Morgen zehn Sonnengrüße mache. Genauso wenig lassen sich Krankheiten oder Beziehungsprobleme einfach „wegatmen“. Sind Achtsamkeitspraktiken dann nicht vielleicht sogar eine Form von Eskapismus – weil wir lieber hundert Atemzüge machen, als uns dem eigentlichen Problem wirklich zu stellen? Weil wir Dinge lieber verdrängen, Gedanken lieber „wegschieben“, als uns aktiv damit auseinandersetzen zu müssen?
Klar: Medititation kann dabei helfen, gelassener an Probleme heranzugehen und einen Perspektivwechsel einzunehmen – und das kann in bestimmten Situationen hilfreich sein. Aber die Achtsamkeitsbewegung lagert die Verantwortung für unser Wohlbefinden auch auf uns als Individuum aus und vermittelt: Es ist unsere eigene Schuld, wenn wir uns gestresst und überfordert fühlen, wenn wir ständig abgelenkt sind, stundenlang durch Tiktok scrollen und es nicht mal schaffen, fünf tiefe Atemzüge hintereinander zu nehmen. Und das ist natürlich Schwachsinn. Denn es blendet die eigentliche Wurzel der Probleme aus und ignoriert vollkommen, dass auch soziale und politische Ungerechtigkeiten ganz erheblich unser kollektives Überfordertsein und Unglücklichsein verantwortlich sind.
Zu guter Letzt glaube ich auch, dass uns zu viel Achtsamkeit zu ich-bezogenen Menschen machen kann. Wer sich ständig mit seiner Innenwelt auseinandersetzt, seine Gedanken und Emotionen bis ins kleinste Detail analysiert und hinterfragt, kann unter Umständen den Weitblick verlieren. Wenn sich alles nur noch um die eigenen Baustellen kreist, dann bleibt gegebenenfalls wenig Raum für Empathie und Interesse an den Mitmenschen. Das sagt mir nicht nur mein Gefühl, sondern sogar eine Studie der University of Buffalo, die tatsächlich ergab, dass zu viel Achtsamkeit egoistischer machen kann.
So ganz genau habe ich das für mich selbst auch noch nicht beantwortet. Natürlich sind Yoga, Atemübungen und Meditation per sé nicht verwerflich und ich bin auch fest davon überzeugt, dass sie uns helfen können, uns in der turbulenten Außenwelt zurechtzufunden. Aber ich glaube eben auch, dass wir nicht bei jeder aufkommenden Emotion aufspringen müssen, um eine Atemübung zu machen oder in unser Journal zu schreiben. Wir müssen nicht jedes Hoch und Tief verstehen und nicht jede Emotion ständig benennen können, damit wir glücklicher werden. Wir müssen Achtsamkeit nicht künstlich erzwingen, wenn wir auch andere Wege kennen, die unser individuelles Wohlbefinden fördern. Wer merkt, dass ein Netflixabend für ihn oder sie entspannender ist als eine 20-minütige Abendmeditation, der darf Teebeutel-Sprüche und Meditations-Reels auch einfach getrost ignorieren.