An einem schönen Morgen, oder wann immer ihr es eben möchtet, nehmt doch einmal die Tramlinie 6 und steigt an der Haltestelle „Am Eiskanal“ aus. Was euch erwartet ist in erster Linie ein denkbar unromantisch anmutendes Umfeld – mitten auf der Friedberger Straße. Kein Kanal in Sicht, obgleich die Haltestelle doch so einen vielversprechenden Namen trägt. Klar, die meisten kennen in Augsburg den Eiskanal, zu dem es von hier aus tatsächlich nicht weit ist. Und genau da wollen wir hin – also nehmt die Beine in die Hand und erkundet einmal mehr mit uns die Kanäle der Fuggerstadt.
Wir wenden uns also nach Süden, laufen über die Ampel und durch eine Schallschutzmauer. Dahinter beginnt der „Spickel“. Der Stadtteil gleicht auf dem Stadtplan einem Keil (Spickel) – daher sein Name. Seine Ursprünge gehen ins 19. Jahrhundert zurück, richtig los ging es für den Stadtteil aber erst 1918, als die Architekten Gottfried Bösch und Josef Weidenbacher hier auf genossenschaftlicher Basis eine Gartenvorstadt verwirklichten.
Diesen Charakter konnte der Spickel weitgehend bewahren, wie man schon im Laubenweg, in den wir nach dem Schallschutzhügel links einbiegen, sehen kann. Dann geht es gleich wieder links in den Heimgartenweg. Eine hölzerne Brücke führt schließlich über den „Eiskanal“ der aber offiziell „Hauptstadtbach“ heißt. Wer mag, kann am Eiskanal, der auch im Sommer wirklich seiner sehr kühlen Temperatur treu bleibt, kurz in die Fluten hüpfen; aber nicht zu lange, gell. Wir wollen (oder müssen?) heute noch mehr Geschichten erfahren.
Ein kleiner Pfad führt entlang der Bahnlinie zur Spickelstraße. Ihr könnt Euch jetzt aus dem Staub machen, und noch eine Runde schwimmen, oder mir durch die Unterführung links folgen. Dahinter liegt das „Herz“ des Spickels, ein kleiner Platz mit dem Gasthaus zum Spickel. Das Gebäude sieht fast noch so aus wie in den 1920er-Jahren, auch damals gab es hier schon eine„Restauration“. Die Schrift „Gartenstadt Spickel“ lässt zudem keine Zweifel, wo wir uns befinden.
Aber halt, wir haben den Faden (äh, den Kanal) verloren. Der ist aber nicht weit weg. Wir müssen die Spickelstraße in den Wald hinein spazieren, gleich gegenüber den Reihenhäusern führt links ein Schleichweg ins Gehölz und nach wenigen Metern plätschert der Hauptstadtbach. Nun aber wird es wieder verzwickt: Der Haupstadtbach hat nämlich einen Seitenarm, den Neubach.
Die beiden Wasserläufe schließen ein kleines Stück Land ein, das die Augsburgerinnen und Augsburger schon im 18. Jahrhundert „Die Insel“ nannten. Dorthin wollen wir jetzt. Unser Weg führt den Schleichweg entlang zurück auf die Spickelstraße und dann über eine Brücke. Der Kanal, der unter dem Steg hindurchsaust ist jetzt der „Neubach“ und wenn wir am anderen Ufer stehen haben wir ohne großes Trara die „Insel“ erreicht.
1793 hatten sich die Patrizier Philipp Christoph und Thomas von Stetten diesen Ort schön kommod gemacht. Es gab den „in englischem Geschmacke“ angelegten Park mit einem Gesellschaftshaus. Aber: Das Ganze durfte nur betreten, wer Patrizier war, was für Unmut sorgte. 1798 notierte Theophil Friedrich Ehrmann: „nur schade, daß boshafte Menschen aus dem Pöbel (…) schon zu verschiedenen malen sich hier das schändliche Geschäfte gemacht hat, die niedlichsten Häuschen und Kunstsachen zu zerstöhren.“
Bald indes durfte jede und jeder Inselluft schnuppern. 1839 wurde sogar ein eigener Zug-Haltepunkt für die „Sommerfrischler“ installiert, 1896-98 eine Gaststätte errichtet. Hier traf sich der „Rauchclub Spickel“ unter dem naheliegenden Motto „Gut qualm“, hier erging man sich auf den Waldwegen, hier veranstaltete man Gondel- oder Schlittenfahrten. 1966 wurde die angegrabelte aber immer noch hübsche Gasstätte abgebrochen, sie lag nun im Trinkwasserschutzgebiet.
Auch von der einstigen Inselpracht könnt ihr nur noch, sehr versteckt im Wald, ein seltsames Denkmal sehen. Wer findet es? Die tempelartige Mikroarchitektur wurde 1802 für Erzherzog Karl von Österreich aufgestellt: Ein Plädoyer der unabhängigen Reichsstadt Augsburg für Österreich und gegen das mit Napoleon paktierende Bayern, das aber letztlich wenig nützte: 1806 verlor Augsburg seinen Status und wurde bayerisch.
Ich würde vorschlagen, links (wir machen diesmal irgendwie alles mit links) die Brücke über den Hauptstadtbach zu nehmen und damit die Insel zu verlassen. Jetzt geht es rechts (ups) und nach dem Gebäude gleich wieder rechts (ups). 1970-72 wurde für die Olympischen Sommerspiele hier ein weiterer Seitenarm des Hauptstadtbaches zur ersten künstlichen Kanu-Slalom-Strecke der Welt angelegt. Die vom Architekturbüro Brockel & Müller realisierte Anlage zählt seit 2019 zum UNESCO Welterbe.
Sie wurde als „Eiskanal“ bezeichnet. Vor dem Bau der Kanu-Strecke diente der, früher auf ganz anderer Strecke fließende, Eiskanal dazu, aus dem Lech heranströmende Eisschollen von den Stadtbächen fern zu halten.
Ein wenig laufen wir die Kanu-Slalom-Strecke entlang, nehmen aber nicht die Brücke darüber sondern biegen rechts in den Wald ein. Hier steht der „Talkingtree“. An den Baum sind Sensoren angebracht, die über seinen Zustand Auskunft geben. Alle Daten werden online gestellt.
Jetzt müssen wir nach links weiter, um zum Wasserwerk am Hochablass zu gelangen. Wie wunderschön das vermutlich von Ludwig Leybold entworfene und Karl Albert Gollwitzer ausgeführte Gebäude mit seinen zwei Türmen ist, seht ihr am besten, wenn ihr zuerst rechts in die Straße am Eiskanal und nochmals rechts in die Spickelstraße einbiegt. Denn hier liegt die tempelartige „Schaufassade“.
Das Wasserwerk war aber eigentlich nicht nur zum „Schönsein“ da. 1878-79 errichtet und 1885 erweitert, ersetzte seine damals topmoderne Pumpentechnik diejenige der Wassertürme am Roten Tor. Weil die Stadt unglaublich stolz auf das technische Meisterwerk war, wurde die Architektur reich mit Ornamenten verziert; wenn ihr an einer der Führungen durch das Innere teilnehmt, seht ihr nicht nur die historischen Pumpen sondern in der reichen Schablonenmalerei auch die Delphine wieder, die ihr (vielleicht) schon am alten Brunnenmeisterhaus am Roten Tor entdeckt habt. 1973 wurde die Anlage stillgelegt und ist Teil des UNESCO-Welterbes.
Wenn wir nun schon so weit gekommen sind, können wir auch die Spickelstraße vor zum Hochablass laufen. 1346 erstmals schriftlich belegt, ist dieses Wehr seitdem eine Lebensquelle Augsburgs. „Unser“ Haupstadtbach wurde von hier aus abgezweigt und speist seitdem alle Augsburger Lechkanäle. Die Fluten des „magisch“ dunkelgrünen Lechs an dieser Stelle waren bei Flößen einst gefürchtet. Wir aber können uns auf den 1912 samt Getriebehäuschen errichteten Steg stellen, die feuchte Luft einatmen, dem Rauschen zuhören und uns freuen, wie schön es sein kann, auf der Welt zu sein.